Die fünf Doktorandinnen

Zustand

Gegen Süden, Norden und Westen: das unbewegte, schläfrige Meer; gegen Osten: das im Dunst der Mittagswärme schwimmende Land. Unter ihnen die Mauer aus dem Mittelalter, gefügt zur Festung, die von den Aldobrandeschi, einem Adelsgeschlecht aus der Toscana, bewohnt wurde. Zugleich höchster Punkt der Ortschaft Giglio Castello. Die Fünf sind auf die Mauer geklettert und erzählen sich dort oben ihre Geschichten.
Berel macht den Anfang.
"Künstliche Intelligenz ist doch eigentlich ein alter Hut. Darf ich euch daran erinnern, dass vor dreißig Jahren Hans Moravec sein Buch Mind Children veröffentlicht hat, in dem er von der glänzenden Zukunft der autonomen Roboter schwärmte..."
Tosca: "und Negroponte sein Being Digital publizierte..."
Sonja: "oder Convay Artificial Life als Computer-Spiel erfand..."
Genia: "Neuronale Netze erdacht wurden... "
Tosca: "Marvin Minsky über maschinelle Intelligenz orakelte und in allen Informatik-Fachbereichen rund über den Globus KI-Institute entstanden..."
Genia: "und großes Geld in Forschungsprojekte gesteckt wurde..."
Tosca: "was natürlich nie reichte und die Regierungen zu noch mehr Förderung anstachelte..."
Berel: "so dass nach Jahren des Experimentierens Roboter Maschinen ersetzen und Computer irgendeine Sprache in irgendeine andere übersetzen konnten..."
Venja: "und die neuronalen künstliche Netzwerke und deren Weiterentwicklung, überhaupt alles, was unter der Bezeichnung maschinelles Lernen segelt, zu Hilfe kam."
Venja: "Liebe Freundinnen, mir scheint, wir wissen, wovon wir reden. Unter KI hat sich alles mögliche versammelt, der aktuelle Hype ist eher der Tatsache geschuldet, dass die Digitalisierung nicht vorwärts kommt, und von der Politik davon ausgegangen wird, dass eine Intensivierung der KI es dann schon richten wird. Vieles in der Diskussion deutet darauf hin, dass alter Wein in neue Schläuchen gegossen wird."
Sonja: "Gemach. So einfach machen wir es uns nicht. Keine von uns ist Expertin auf diesem Gebiet, würde ich behaupten.
Genia zum Beispiel kennt die eine oder andere Technik, wir anderen wenden sie an, ohne ihre Funktionsweisen im einzelnen zu kennen. Soweit richtig?"
Die Angesprochenen nicken zustimmend."
Sonja: "Wir können uns aber, auch wenn wir keine Expertinnen sind, mit den Auswirkungen von KI beschäftigen.
Wir dürfen das Umfeld, in dem sie Bedeutung erlangt hat, die Ansprüche, die um sie herum entstanden sind, die Versprechungen, mit denen die KI-Industrie wirbt und die von der Politik dankbar aufgegriffen werden, all das dürfen wir mit Fug und Recht kritisieren. Das tun selbst die Erfinder der KI, oder diejenigen, denen sie zugeschrieben wird; sowie die Ethik-Kommissionen, Soziologen, Philosophen, auch die Gewerkschaften, die sich um Arbeitsplätze sorgen.
Langer Rede kurzer Sinn: mir stößt auf, dass sich Ethik und Religion am Wort künstlich reiben. Intelligenz soll natürlich sein. Andererseits - was ist nicht alles künstlich heutzutage! Der Schnee, der nicht fällt, wird - allem Klimaschutz zum Trotz - durch Kunst-Schnee ersetzt, und Bau-, Bekleidungs- und Nahrungsmittel-Industrie haben sich den Kunststoffen verschrieben; nicht zu reden von der künstlichen oder virtuellen Realität, mit denen den Kindern das Spielen mit Bauklötzen ausgetrieben wird. Hier ist das Künstliche zur Selbstverständlichkeit geworden."
Berel: "Die künstliche Befruchtung. Ein Megaprofit für die Reproduktions-Industrie. Frauen und Männer, die unbedingt eigenen Nachwuchs haben wollen, was aus diversen Gründen nicht gelingt, greifen zu künstlichen Hilfen, um ihn zu realisieren."
Genia: "Würdest du?"
Berel: "Niemals. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht."
Genia: "Die Gentechnik, eine Verwandte der KI, manipuliert die genetische Ausstattung von Pflanzen und ist dabei, ähnliches auch beim Menschen zu versuchen. Die Medizin tauscht seit Jahren krankhafte Organe gegen gesunde, Virologen manipulieren lebensbedrohende Viren zu nützlichen Helfern. Stets ist KI dabei. Sie hilft, die Gefahren zu minimieren, die beim Ersatz des Natürlichen durch das Künstliche entstehen. Wobei ich auch den Ersatz, sollte er natürlichen Ursprungs sein, aus Überzeugung, als künstlich bezeichnen würde..."
Berel: "Heißt das, dass wir den Begriff des Künstlichen neu überdenken müssen? Dann aber ist auch das Natürliche an der Reihe. Das eine wie das andere verlangt nach neuer Deutung."
Genia: "Das ist Aufgabe der Philosophie."
Tosca: "Was spricht dagegen, wenn wir weniger technisch, mehr philosophisch würden?"
Genia: "Philosophie beschäftigt sich, unter anderem, mit den Schwierigkeiten, denen wir im Leben ausgesetzt sind, tut das im modernen Sinn auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie versucht, daraus eine Ethik zu machen."
"Von wem hast du das?" Venja will das gar nicht wissen, will nur ein bisschen sticheln. Denn sie weiß, dass alles von irgendwem irgendwann ausgedacht worden ist, und dass das eigene, dazugetane nur ein bisschen ist, ein Staubkörnchen im Kosmos der sich über Jahrtausende erstreckende Erkenntnis und des Wissens.
Genia nennt John Dewey, den amerikanischen Professor, und charakterisiert ihn als den Begründer einer Philosophie der Praxis, oder wie die Gelehrten sagen, der Philosophie des Pragmatismus: "John Dewey finde ich sehr klar, verständlich und von großer Bedeutung für das Jetzt. Er ist fast hundert Jahre alt geworden und hat das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert jeweils zur Hälfte erlebt. Seine Abhandlung Reconstruction in Philosophy ist gut lesbar, im Gegensatz zu den deutschen Philosophen, die ich wegen der komplizierten Schreibe kaum verstanden habe. Er kommt auch gut weg bei Bertrand Russell in seiner Philosophie des Abendlandes}. Und das will was heißen!"
Venja: "Von Russell habe ich gehört, von Dewey nicht. Wie kann das sein?"
Tosca: "Venja, die Frage musst du dir selbst beantworten."
Berel: "Ich will mir den Namen merken und herausfinden, ob ich ihn verstehe. Aber zurück zu unserem Thema. Die sogenannte starke KI hat den autonomen Roboter längst hinter sich gelassen und arbeitet an menschenähnlichen Gebilden. Durch Implantation des Geistes, der dem Eigentümer im Todesfall entnommen wird, in die körperlose Hülle des künstlichen Menschen, der dadurch unsterblich werden wird."
Genia: "Schreckliche Phantasien. Ich glaube nicht, dass daraus etwas wird. Wir alle wissen, dass jede neue Technologie ihre guten und ihre schlechten Seiten hat. Um die schlechten hat sich jahrelang die sogenannte Technologie-Folgen-Forschung gekümmert. Allerdings ohne größere Wirkung zu entfalten. Das ist Schnee von gestern. Wir alle sind jetzt aufgefordert, das Gute gegen das Schlechte abzuwägen."
Sonja: "Künstliche Intelligenz oder Digitalisierung, die Begriffe gehen durcheinander, sind aber de facto miteinander verknüpft. Die Digitalisierung hat den Niedergang des Kundendienstes zur Folge. Bei telefonischer Anmeldung, seien es die Krankenkassen, Stadtverwaltungen oder eine Firma, Bahn, Sparkasse oder Krankenhaus -- die übrigens alle einen umfänglichen Kundendienst versprechen -- muss man sich zunächst durch einen Dschungel unsinniger Fragen kämpfen. Missverständnisse häufen sich. Die Irrfahrt endet dann häufig im Nichts -- man hört das Besetzt-Zeichen und gibt auf."
....Man pausiert, folgt den eigenen Überlegungen, sammelt Argumente. Fragt sich: Haben wir etwas vergessen? KI ist so ungemein vielschichtig. Es wäre nicht gut, wenn ein wichtiger Aspekt unausgesprochen bliebe. Denn wir müssen vorbereitet sein, eine Idee haben, wie wir in naher Zukunft damit umgehen. Wir sind noch jung, wir werden voll und ganz im Zeitalter der KI leben, im Gegensatz zu unseren Eltern und Großeltern, die davon nichts ahnten, und doch auch diese in einem Zeitalter der großen Umwälzungen gelebt haben, denken wir an die Quantenmechanik und Satellitentechnik. Und davon nicht den Schimmer einer Ahnung hatten. Aber eben auch nicht in dem Ausmaß davon berührt wurden, wie wir aller Voraussicht nach von der KI.

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