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Bücher mit Lorbeer


	
	

Sasa Stanisic: Herkunft (DBP)

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Die märchenhafte Herkunft des Sasa Stanisic

Wenn Herr Scheck, der prominente Büchermann vom Fernsehen, der Herr mit den närrisch großen Ohren, der pompöse Settings liebt und über eine gewisse Geschicklichkeit verfügt, "schlechte" Bücher zielsicher in die dafür vorgesehene Tonne zu werfen, wenn dieser Herr dieses Buch wärmstens empfiehlt, sollte ich meine Hände davon lassen, denn mein und sein Geschmack vertragen sich eher selten. Ich habe es dennoch gelesen - und war vom Buch nicht beeindruckt.
Sasa kommt als Kriegsflüchtling aus Bosnien und wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Zu den gelungenen Sätzen im vorliegenden Buch gehören, unter anderen, diese - aufgeregt wie Frühlingsanfang oder Ich lege das Ohr an die verblassten Farben und lausche} oder das Wasser hat nach der Last der Berge geschmeckt, die ich nie tragen musste. Zu den weniger gelungenen, unter anderen, diese - Mutter wartet...wartet... wartet... Das Warten steckt an, auch ich warte und warte, es muss doch etwas kommen, dann endlich: Sie ließen sich in Jugoslawien am Blinddarm operieren ... und manche haben ihren Blinddarm noch. Beispielhaft für die möglicherweise als komisch empfundenen Passagen zitiere ich diese - Meine Großmutter hatte ein Nudelholz, mit dem sie mir Prügel androhte...ich habe bis heute ein reserviertes Verhältnis zu Nudelhölzern und indirekt auch zu Teigwaren (Im Alter von dreißig Jahren hat Sasa seinen Lebenslauf für die Ausländerbehörde mit dieser bemerkenswerten Zeile vervollständigt).
In diesem Buch gibt es ein Zuviel an hervorgehoben Trivialem, aufgeputzten Überflüssigem, es gibt zu viele Sprünge in Zeit und Raum und sich wiederholende Phantastereien. Ich deute das als Versuche, eine eigene Note zu setzen. Denn er muss sich dabei doch etwas gedacht, empfunden haben! Was das nur sein mag? Die Literaturkritiker rätseln und da sie nicht drauf kommen, muß es etwas Großes sein, was der Sasa da hinter den Sätzen versteckt. Oder ist es ihm von höherer Instanz zugeflüstert worden? Denn am Ende der Herkunft gibt es ja noch den Drachenhort. Das sind weitere sechzig Seiten Drachenmärchen. Die vom Verfasser eingestreuten Hilfen, um auf diesem oder jenem Weg durch den von Drachen und Gespenstern verbarrikadierten Anhang zu navigieren, und das von mir herbei gewünschte Ende zu erreichen, sind bloße Spielerei; aber im Gegensatz zum wahren Spiel gibt es kein Ziel, das angesteuert werden will.
Fazit: ich mag es nicht empfehlen.


Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis (DBP)

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Bodo Kirchhoffs Italienische Reise

Der gedrechselte Titel lässt mich grübeln. Ein Wort, noch nie gehört. Doch dann: Ein in die Jahre gekommener Autor und Verleger (wie naheliegend), Markenzeichen: Rotwein, filterloser Kettenraucher, Lederjacke und Womanizer ergreifen im April mit Macht die Hormone (vielleicht in dieser Heftigkeit ein letztes Mal), als eine jüngere (denken Sie etwa eine ältere?) schöne (ich bitte Sie, \textit{bestürzend schöne}) Frau in sommerlichen Riemchenschuhen (with high heels?) vor seiner Tür auftaucht. Wer wäre von uns alten Knackern davon nicht angetan! Schnell sind sich die beiden einig, ein Abenteuer zu wagen und lassen sich in einem Schwung bis nach Sizilien treiben, wo es nach 150 Seiten zur Vereinigung kommt. Aber es geht nicht gut. Ein Flüchtlingskind kommt in die Quere. Man trennt sich: Sie bleibt im Land, und er lässt sich von einem aus dem Nichts einfallenden Nigerianer nach Hause chauffieren.
Die Geschichte gibt (außer einigen wenigen gelungenen Beobachtungen und überraschenden Vergleichen) nicht viel her. Fällt von einer wortreichen Blähung in die nächste (Glocke schlug in verlorenen Tönen elf; Anprall an ihre weichen Klippen; verstörend glatt; wie benagelt mit Sternen; hellwach; Nacht ist vorgedrungen); oder dieses wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise). Er windet sich manieriert durch nicht enden wollende Schleifen des Alltäglichen. Das Ende: konstruiert, verkrampft. Wenn schon Italien, warum nicht auch dessen Flüchtlinge vereinnahmen, die sich in die Büsche geschlagen haben. Übrigens: Hat Kirchhoffs Protagonist eigentlich bedacht, welche Verschmutzung er anrichtet, wenn ungezählte, angerauchte, halb gerauchte Zigaretten aus dem Auto geworfen oder auf der Straße mit der schicken Stiefelspitze ausgetreten werden? Ich hätte nichts dagegen, wenn Kirchhoff als Urheber dazu verdonnert würde, die Kippen seines Helden aufzulesen.
Fazit: Nie wieder Kirchhof. Nie wieder DBP- Bücher.


Robert Menasse: Die Hauptstadt (DBP)

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Brüsseler Allerlei

Ich konzentriere mich auf eine Gestalt in Menasses Werk, eine von den vielen, die durch Brüssels Straßen, Kneipen, Gebäude laufen, vielleicht doch eher irren, essen, schlürfen, schwitzen, intrigieren, von ihren körperlichen und psychischen Schmerzen und der unaufhörlichen Hitze gepeinigt werden - auf eine aus dem umfangreichen „Personal“ (Bezeichnung von S. Prokopp, einer Amazon-Kommentatorin): den Herrn Professor Erhart. Dieser gelehrte Österreicher hält eine aufrührerische Rede vor einem von der EU finanzierten think tank}. Es geht um Europas Zukunft, insbesondere die wirtschaftliche. Nach mehreren Anläufen, die vom Autor unterbrochen werden, weil es zwischendurch auf jeweils hundert Seiten ja auch anderes zu berichten gibt (so dass ich immer wieder rekapitulieren musste, wer denn bloß noch dieser Erhart ist), kommt es endlich. Es muss etwas Großes kommen, es muss der Kulminationspunkt des Romans sein, dachte ich, was sonst hätte die gespreizten Wege von Erhart durch Brüssel gerechtfertigt, bis er loswerden kann, was ihm auf den Nägeln brennt? Doch der Berg kreißte und gebar eine Maus. Das Elend der Ökonomie, so der Herr Erhart, sei ihr nationalistischer Charakter. Und Auschwitz müsse europäische Hauptstadt werden.
Alles in allem: ein Buch mit bescheidener Dramaturgie, ein Behälter für Geschichten und Gestalten, die den berühmten roten Faden vermissen lassen. Ein Buch über den Moloch Europäische Union, möglicherweise das erste dieser Art, vielleicht deshalb der Buchpreis.
Fazit: Ich habe das Buch, am Ende angekommen, schnell in die hinterste Ecke des Regals gesteckt. Die Jury hätte besser daran getan, Menasses Schwester Eva zu ehren.


Sibylle Lewitscharow: Apostoloff (DBP)

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Wenn die kleine Tochter dem großen Vater aus der Zeitung vorliest

Wenn es nur auf die Form ankäme, würde ich Apostoloff noch einmal lesen. Weil Sibylle viele kleine und größere sprachliche Leckerbissen in ihre Erzählung eingestreut hat. Darunter die Beschreibung der Zwillinge Wolfi und Marco. Frau Lewitscharoffs Spott ist gnadenlos, aber völlig in Ordnung. In dieser Hinsicht gibt es wenige, die ihr das Wasser reichen können. Allerdings erliegt auch Frau Lewitscharoff, leider, wie ihre Kolleginnen, nicht selten der Krankheit der lächerlichen, sinnlosen Wort-Spielereien: Dreck, Zwingdreck, Kraftdreck, Volldreck habe ich stellvertretend für viele andere herausgegriffen. Da handelt es sich um nichts anderes als Zeilenfüller, das hätte sie nicht nötig.
Wenn es nur auf den Inhalt ankäme, würde ich Apostoloff kein zweites Mal lesen. Schon beim ersten Mal hatte ich Mühe, bis zum Ende zu kommen. Die Exhumierung der Exilanten, davon betroffen vor allem der Vater, mit dem sie ganz offensichtlich Liebe und Hass verbindet; der sich dahin schleppende Konvoi; die endgültige Bestattung in Bulgarien - all das ist an den Haaren herbeigezogen. Die Erzählung sagt mir wenig, sie bewegt mich nicht. Frau Lewitscharoff hat ihre Geschichte erfunden, um ein Buch zu schreiben.
Aber ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht. Auch wenn ich die Geschichte für ziemlich missglückt halte, so enthält sie doch einige schöne Szenen, die ich nicht vergessen werde. Dazu gehört, wenn die kleine Sybille dem Vater die Zeitung vorliest und noch gar nicht lesen kann. Das Bild ist so schön, das lässt sogar das Gift vergessen, das sie von Anfang bis zum Ende über den Vater ausgießt. Übrigens Fand ich die Geschichte ihrer Eltern ganz und gar nicht erzkomisch (was für ein schreckliches Wort), wie das der lächerliche Klappentext des Buches verzeichnet, sondern im Grunde ziemlich ernst und eher traurig.
Fazit: Ich hoffe, dass Sibylle ihre Fantasie, ihren Witz, Ernst und Mut weiteren Romanen angedeihen lässt.


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Bücher mit Leidenschaft

	

		
	

Wassili Grossman: Stalingrad

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Grossmans Auferstanden aus Ruinen

Der Roman Stalingrad ist ein epochales Werk. Es schildert das Leiden, Leben, Lieben, das Kämpfen, Erdulden, den Mut und die Entschlossenheit der Menschen in der Sowjetunion im Kampf gegen Hitlers Armeen. Wir erfahren, wie diese im Krieg, in dem das Extreme zum Normalen wird, sich verhalten, wie sie trotz all der Zerstörungen und Niederlagen, die sie haben hinnehmen müssen, ihre Angst vorm Tod besiegen, mit äußerster Hingabe ihr Land verteidigen, und niemals daran zweifeln, dass am Ende der Sieg ihnen gehört. Das, scheint mir, ist Grossmans Botschaft: wenn alle zusammenstehen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter und Bildung, dann, aber nur dann, wird der Widerstand erfolgreich sein.
Darf ich Grossmans euphorischem Bild glauben? Seine Vita, inzwischen gut bekannt, spricht dafür. Ebenso der Verlauf des Krieges. Auch der umfängliche, mit Fakten gespickte Anhang. Und wer bemängelt, dass er Stalins nur gelegentlich, und dann eher mit Milde, fast könnte man sagen, mit einem gewissen Verständnis erwähnt, dann doch deshalb, um die damalige Wirklichkeit richtig abzubilden. Der gemeinsame Feind war Hitler, nicht Stalin. Im Gegenteil. Stalins unerbittliche Brutalität und bedenkenloser Einsatz, bei dem weit mehr als zehn Millionen Soldaten zu Tode kamen, hat den Sieg über Deutschland ermöglicht.
Grosmanns Beschreibungen der Wolga lassen den Krieg zumindest vorübergehend vergessen. Die sachte Strömung des mächtigen Stroms, die Luft über dem Wasser und das Farbspektrum, das durch die auf- und untergehende Sonne hervorgerufen wird, gehört zu den schönsten Naturbeschreibungen, die ich bis hierher gelesen habe.
Die Sowjetunion hat Menschen und Städte, Dörfer, Wälder und Felder opfern müssen, um die auf Vernichtung spezialisierte deutsche Kriegsmaschinerie aufzuhalten, zurückzudrängen und zu vernichten. Nirgendwo wird das vermutlich eindringlicher und realistischer beschrieben, als in Grossmans Buch Stalingrad.
Die Fortsetzung von Stalingrad ist Leben und Schicksal. Das Buch ist ebenso umfangreich wie das vorliegende. Kritik an den Machenschaften des politischen Systems, insbesondere Stalin, dem unumschränkten Herrscher über Land und Leute, wird hier allerdings sehr viel deutlicher.
Beide Bücher zeugen von Grossmans unverbrüchlicher Treue zu seinem Land. Aber da ist mehr - sein Mitgefühl, seine schriftstellerische Kraft, eingesetzt für alle, die im Krieg gelebt, gelitten, getrauert haben, gefallen sind, sich dem Aggressor in den Weg gestellt haben; sein Aufbegehren für all diejenigen, die auf Geheiß der Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts gefoltert und geschändet und ums Leben gebracht worden sind.


Paul Bowles: The sheltering sky

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Unter dem Himmel, der behütet

Ich halte Paul Bowles „The sheltering sky“ (deutsch: Himmel über der Wüste) für einen der besten Romane des 20. Jahrhunderts. Die Zeit unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Zwei Menschen lieben sich, aber kommen nicht zusammen. Die groß angelegte Reise nach Marokko: ein eher verzweifelter Versuch, endlich die Intimität zu erfahren, die beide auch nach zwölf Jahren ihrer Ehe nicht gefunden haben. Aber es gelingt nicht. Sie sind zu kompliziert. Sie fürchten sich, vor dem was hinter der Liebe liegt: die Finsternis. Es sind vergeudete Jahre, sagt sich Kit, als sie Port, ihren Mann, den doch eigentlich geliebten, dem vom Typhus gezeichneten in den Armen hält, sie sagt es bitter und angsterfüllt. Und nach seinem Tod und all den Jahren des Zurückhaltens, Abwehrens, Verweigerns flammt ihre Sucht, sie will gesättigt werden; lustvoll unterwirft sie sich wieder und wieder dem heißen, animalischen Begehren des Arabers. Das geht so lange gut, bis dieser sein Verlangen gestillt und eine andere aus seinem Harem bevorzugt. Das Ende: schwer beschädigt, flieht sie vor sich selbst und ihrer Vergangenheit. Ihre Spur verliert sich im Gedränge von Tanger.
Eine düstere Geschichte, die nur von dem blendendem Licht der Wüste aufgehellt wird; begleitet vom ständigen Nordost Passat und dem Himmel darüber, immer wieder der Himmel, durchsichtig und brennend, wie \textit{geschmolzenes Metall}. Es ist der Himmel über der Wüste, der tröstet, bedeckt und schützt, eben als \textit{the sheltering sky}.
Ich empfehle die englische Version, die allerdings nicht einfach zu lesen ist; die deutsche fällt an einigen Stellen etwas flach, wenn auch im Großen und Ganzen die Übersetzung wohl das Richtige trifft. Bertoluccis Verfilmung bleibt wie jede Romanverfilmung hinter den Text zurück, hat aber einen grandiosen Einstieg, als die jungen Marokkaner mit dem voluminösen Gepäck der Amerikaner die Treppen heraufsteigen.


János Székely: Verlockung

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Mitreißend

János Székely hat ein wunderbares Buch geschrieben. Es ist das tiefste und leidenschaftlichste, das mir seit langem begegnet ist und es ist zugleich das spannendste und verrückteste, das traurigste und komischste, und ich weiß, dass selbst diese Superlative die Qualität des Buches nicht beschreiben können. Es gibt Bilder in Székelys Sprache, die sind umwerfend, weil sie so gut sind. Székely erzählt die Geschichte des Jungen Béla, der, in unfassbarer Armut aufwachsend, zum Liebhaber Seiner Exzellenz aufsteigt und als Kämpfer zu den Seinen, den Mittel- und Rechtlosen, zurückfindet.
Es ist ein ganz und gar parteiisches Buch. Hier die Machtlosen, dem die Zuwendung des Autors gilt, und dort die Mächtigen, die er mit Spott, Hohn und Verachtung abhandelt. Und doch ist sein Roman alles andere als platt oder gar propagandistisch. Dafür sind die Machtlosen selbst zu fehlerhaft, lasterhaft und schwächlich. Und es gelingt dem Autor, seine Parteilichkeit auf den Leser zu übertragen. Ich habe mit Béla und seinen Leuten gelitten und gekämpft und mit ihnen auf ein besseres Leben gehofft.
Gleichwohl, die Machtlosen sind nicht immer die Unterlegenen. Zwei Szenen, die ich für die besten des Buches halte, belegen das. Im Wettstreit des Händedrückens zerquetscht Bela die Hand des skrupellosen Abgeordneten, nachdem dieser zuvor das Gleiche bei Béla versucht hat und gescheitert ist. Und das im Angesicht Seiner Exzellenz, deren Schönheit und Laszivität alle Männer verrückt macht! Und dann die Szene, als Bela von Seiner Exzellenz gerufen wird und sie ihn, halbnackt, in ihrem Zimmer empfängt. Sie spielt mit seiner Erregung, gerät selbst außer Sinnen und als er, angestachelt davon, über sie herfällt, nimmt sie sich, was ihr impotenter Mann nicht geben kann. Eindringlicher, leidenschaftlicher und ästhetischer kann Erotik nicht geschrieben werden; es ist das schärfste, was ich dazu gelesen habe. Und zugleich ist diese Szene viel mehr. Sie ist der Höhepunkt der gegenseitigen moralischen und psychischen Ausbeutung, und diese ist, naturgemäß, gegenseitig. Insofern ist die Verlockung, der Béla erliegt, oberflächlich nichts anderes, als die Verlockung, der Seiner Exzellenz erliegt. Tatsächlich sind die Unterschiede aber eben doch gravierend, und deshalb entsagt Béla, als sein Verstand wieder die Oberhand gewinnt, seiner Leidenschaft, wenn auch unter großen Schmerzen, und kämpft hinfort auf der richtigen Seite um Leben und Freiheit, mit den Unterdrückten, gegen die Unterdrücker.


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Bücher mit Ausrufezeichen

	
	    		
	

Javier Marías: Alle Seelen

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Die Liebe in Oxford

Alle Seelen ist mein erstes Buch des erfolgreichen Schriftstellers. Ich bin also ganz unvoreingenommen an das Buch gegangen, eher ein bißchen gespannt auf das, was dieser Marías aufgeschrieben hat. Doch welche Enttäuschung! Ich war stets drauf und dran, es zur Seite zu legen, habe dann doch bis zum Ende durchgehalten. Ich mag es nicht, mit eher Belanglosem seitenlang festgehalten zu werden. Allerdings lässt sich wohl sagen, dass Marías aus Belanglosem Bedeutendes macht. Und beigestellte Erklärungen werden bei ihm mit Klammer-Zeichen versehen. Er ist Literaturwissenschaftler. Ein Naturwissenschaftler, Physiker zum Beispiel, hätte die Erzählung ganz anders geschrieben, die Wiederholungen und Kleinigkeiten gemieden, denn in den Naturwissenschaften geht es um Neues, Großes; mit Wiederholungen kann man keinen Blumentopf gewinnen.
Nun ist unbestreitbar, dass das Leben vorwiegend aus Wiederholungen besteht. Aber wenn Wiederholungen um der Wiederholungen, der Effekte wegen das vorliegende Buch in großer Zahl bevölkern, entsteht Langeweile, das Schlimmste, das einem Buch passieren kann. Es sind der Abfalleimer, Claires Schuhe und Strümpfe, die Zigarettenasche, die auf die Strümpfe fällt, ihr Rock, der verrutscht und den begehrenden Blick auf ihre starken Beine ermöglicht, die Zigaretten, heiß oder kalt, geraucht oder weggeworfen. Immer wieder die Zigaretten. Beispiele unter vielen anderen, die wortreich den Fluss des Lesens unterbrechen.
Dass Marías in Oxford war, entnehme ich seiner Vita in Wikipedia. Es ist also seine Geschichte, die er erzählt, auch wenn, wie er gleich zu Anfang feststellt, der jetzige Marias nicht mehr derselbe ist, der in den siebziger (?) Jahren das Oxford-Theater erleben durfte. Er beschreibt die literarischen Hoheiten, ihre exzentrischen Lüsternheiten vor allem. Ich habe in Oxford ganz andere Leute erlebt, angesehene Professoren, die verhielten sich ziemlich entspannt und normal, aber das waren eben auch keine Literaturwissenschaftler.
Die beste Szene im Buch ist die Beschreibung von Muriels Liebesdienst, auch wenn Marías sie als die falsche Dicke bezeichnet. Sie ist die befriedigende Einfachheit, im Gegensatz zu der erregenden Kompliziertheit von Claire Bayes. Um diese dreht sich alles, sie ist der Mittelpunkt. Ihr Bild vor Augen, versucht Marías Kopf, das Geheimnis dieser Frau zu entschlüsseln, seine sexualisierte Fantasie, ausgiebig und formenreich die Liebeskunst mit ihr zu praktizieren. Er ist eifersüchtig auf alle, die ihr nahestehen, der kränkelnde Sohn nicht ausgenommen. Immerhin muss er sich keine Vorwürfe machen, mit Claire angebändelt zu haben. Erstens wollte sie es, und zweitens scheint auch ihr Mann dem außerehelichen Abenteuer durchaus nicht abgeneigt zu sein. Denn zum Schluss seines Oxford-Aufenthalts sieht Marias eben diesen Bayes in liebevoller Umarmung mit einer Frau, noch dazu mit jener, die der zu Anfang des Buchs ausführlich geschilderten Zug-Bekanntschaft zu gleichen scheint. Ob das stimmt, bleibt wie so vieles anderes im Buch im Ungewissen. Seine Wahrnehmung könnte eine arglose Beziehung zu einer pikanten Liebschaft hoch skaliert haben; angesichts von Marías Anfälligkeit für derlei Konstruktionen scheint mir diese Deutung durchaus plausibel.


Takis Würger: Der Club

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Takis Würgers Club

Wenn der Mann fürs Feine, ich meine den Herrn Scheck, das vorliegende Buch „ein ganz großes“ genannt haben soll, bin ich versucht anzunehmen, dass es sich um ein ziemlich kleines handelt. Das wiederum wäre im aktuellen Fall ungerecht. Es ist weder groß noch klein, es liegt dazwischen. Woraus folgt, dass es mich nicht sonderlich beeindruckt hat.
Im Club geht es hart her. Es wird viel getrunken, gekotzt, geschlagen, geblutet. Gerächt. Und – vergewaltigt. Ähnlich ist der Sound. Taff und meist knapp. Am Ende eines jeden Absatzes kommt nach aufregendem Vorspiel (natürlich nicht zufällig) eine Belanglosigkeit. Die Sätze sind auf Effekt ausgelegt - Spiegel-Stil. Der Kontrast: einerseits die mit Brüchen besetzte, vorsichtige Liebe zwischen Hans und Charlotte; andererseits das feine Essen, die geschneiderten Anzüge, die erlesenen Getränke, allerlei Geschmeidigkeit. Einfallsreich die Strukturierung des Buchs. Alle Akteure/Akteurinnen dürfen ihre Sicht der Dinge in eigens für sie reservierten Artikeln darstellen.
Der Schluss ist das Manko. Da ist dem Autor und Boxer buchstäblich die Puste ausgegangen. Mir gefällt nicht, dass der Held der Geschichte, ähnlich einem mittelmäßigen CIA-Agenten, hintenherum den Konflikt zu lösen versucht. Ich plädiere für einen anständigen Schluss. Hans sollte Josh fordern und ihn im Kampf Mann gegen Mann niederstrecken. Diesen also büßen lassen, was er seiner Charlotte angetan hat. Er hätte den Billy anheuern sollen, der es Charlottens Vater ordentlich besorgen würde. Allerdings gibt es für solch ein Finale eine Einschränkung: die Gewichtsklasse. Josh scheint mir eine Nummer höher als Hans zu sein. Aber durch gute Technik hätte das Hans ausgleichen können.
Takis Club kann mit seinem anderen Buch, das er Stella genannt hat, nicht mithalten. Mein Vorschlag: Wenn Würger, dann Stella. Die ist glaubwürdig und streckenweise mitreißend.


Nastassja Martin: An das Wilde glauben

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Zurück zu den Wilden

Ein Buch, als Nachspiel zum Bären-Ereignis -- was, wenn nicht dieses, würde ich einzigartig nennen! Denn wer hat je davon gelesen, dass die Angegriffene, schwer verletzt, den bärenstarken Angreifer in die Flucht schlägt? Von daher alle Punkte für die Autorin.
Das Ereignis hat, wie alle extremen, zwei Seiten: die schlechte ist die körperliche Verwundung von Frau Martin, die gute ist die einzigartige Gelegenheit, daraus eine Erzählung zu machen, die sie, so scheint mir, zu einer vielgelesenen und vielgepriesenen Schriftstellerin gemacht hat.
Aber da ist ihre Lebenskrise, ihr zwiespältiges Verhältnis zur modernen Welt. Jedenfalls ist es ein Leiden an der Welt, das schon vor dem Ereignis bestand, jenseits der Monate währenden Schmach, die sie empfindet, wenn die Öffentlichkeit mitleidsvoll ihrer kaum verheilten Wunden gewahr wird. Einerseits ist sie die Wissenschaftlerin, französischer clarté verpflichtet, die sich vorgenommen hat, anthropologische Feldstudien unter dem Gesichtspunkten der Alterität, Insularität, Liminalität im unwirtlichen Kamtschatka zu machen. Folglich sieht sie das Zusammentreffen mit dem Bären, völlig richtig, als ein zufällig-mögliches, wenngleich extrem unwahrscheinliches Ereignis. Ihr Studienobjekt ist eine zurückgebliebene, ungebildete Jäger und Sammler-Welt, wo allenfalls der Kühlschrank und das ubiquitä́re Smartphone die Verbindung zur aktuellen Welt herstellen.
Andererseits fasziniert sie das Leben dieser Leute, ihr direkter Zugang zur Natur, ihr Glaube an Übersinnliches, Metaphysisches. So wird aus dem Bären als Aggressor der Bär als Erlöser, der ihre wunde Seele heilt; insofern die Begegnung natürlich keine zufällige, sondern vorherbestimmte ist, eine Sichtweise, der man sich, a posteriori eines extremes Ereignisses, zugegebenermaßen nur schwer entziehen kann. Zeichen und Vorzeichen werden bemüht, um das Ereignis zu deuten. Und am Ende wird aus dem Angriff des Bären ein etwas gewalttätiger Kuss, der sie erlöst, ihre Seele transzendieren lässt. Einspruch: Als Tierfreund stellt sich mir die Frage, was aus dem Bären geworden ist. Den sie doch, folgt man ihrer Darstellung, nicht unerheblich verletzt hat! Er dürfte in keiner Klinik, weder einer russischen, noch einer französischen behandelt worden sein.
Die Erzählung hat mich auf den ersten hundert Seiten angesprochen. Danach, als alles mehr oder weniger um ihre Befindlichkeit kreist, hatte ich Mühe, weiterzulesen. Für meinen Geschmack nahmen Mythen, Determinismus, Naturromantik oder wie immer man ihre Hingabe an das "Wilde" nennen mag, überhand. Vieles habe ich dann auch nicht mehr verstanden, vor allem wenn es um ihre Erklärung der Welt ging; es wurde dunkel, wo Licht die bessere Lösung gewesen wäre. Der Satz am Ende der Erzählung: Die Ungewißheit: ein Versprechen von Leben soll wohl darauf verweisen, dass Ungewissheit Bestandteil des Lebens ist. Das ist bekannt. Deshalb hätte ich mir einen anderen Satz gewünscht.


Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

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Macht aus Armen Reiche!

Shumona Sinha schreibt über die Emigranten aus Indien. Aus Indien ist auch sie geflüchtet und hat in Frankreich Aufnahme gefunden, Frankreich gewählt der Sprache wegen, wie sie sagt. Im Zuge der aktuellen Völkerwanderung ein eher seltenes Motiv - eine Syrerin oder ein Syrer, die nach Deutschland wegen der deutschen Sprache kommen? Wäre zu schön, um wahr zu sein.
In Frankreich dolmetscht Shumona für ihre Landsleute, muss notgedrungen die Sprache sprechen, die sie nicht mehr sprechen will, damit die französische Verwaltung über Asyl oder Abschiebung entscheiden kann. Inzwischen ist sie als Schriftstellerin eben dort zu Ruhm und Ansehen gekommen. Der Titel des Buchs lässt Giftiges ahnen, und in der Tat: dies schmale Buch ist eine gereizte, wütende und zugleich traurige Abrechnung mit ihrem Heimatland, deren Männern, deren Flüchtenden, ihrer eigenen Familie auf der einen Seite und der französischen Verwaltung auf der anderen. Sie schreibt auf, was sich angesichts der in Deutschland verordneten Willkommenskultur niemand zu trauen schreiben würde. Worum es in diesem Buch nicht geht: objektiv Stellung zu nehmen, das Für und Wider der Flüchtlingsbewegung abzuwägen, Argumente zu liefern, um des Lesers schwankende Position zu dem Problem zu festigen. Im Gegenteil. Das Buch ist ein Buch über Sinhas persönliche Probleme im Angesicht der Asylanten: über ihren Hass auf die Flüchtlinge und über ihr Mitleid mit denselben. Über ihre Aggressionen, wenn sie das Elend dieser Leute aus nächster Nähe erfährt und ihren Abscheu vor den Lügen - den Lügen und Ausflüchten der Armen aus den abgeschriebenen Ländern und den Lügen und der Selbstgerechtigkeit der Entscheider aus der westlichen Welt. Und vor allem: ein Buch über die Schwierigkeiten mit sich selbst.
Aber da passiert etwas. Shumona schlägt einem Asylanten eine Flasche über den Kopf. Es ist die Kumulation der Ereignisse, die zu dieser Grenzüberschreitung führt. Man würde sagen, es war eine Handlung aus dem Affekt, einer Laune, ohne allzu große Konsequenzen. Für die Autorin ist es hingegen ein Schlüsselerlebnis. Es immer wieder auf dieses Ereignis rekurriert. Das Buch gerät so in eine Umgebung von Langeweile.
Womit mich das Buch überzeugt, ist die Mächtigkeit seiner Sprache. Wer erfindungsreiche Verknüpfungen liebt und sich von dem Dämon ihrer Wörter mitreißen lässt, fährt mit diesem Büchlein genau richtig. Wer einen vernünftigen Beitrag zur Flüchtlingsproblematik erwartet, sollte die Hände davon lassen. Er könnte auf die (teuflische) Idee kommen, die Flüchtlinge zwar nicht zu erschlagen, aber samt und sonders in ihre Heimat zurück zu schicken.


Simon Strauss: Sieben Nächte

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Sieben Nächte Schaum vorm Mund

Das Buch hätte einen anderen Titel verdient: "Sieben Nächte Schaum vorm Mund". Aber so sind es nur die sieben Nächte. Das Buch ist die trotzige Antwort auf die Verhaltensweisen des guten deutschen Durchschnittsmenschen. Mit dem möchte der Autor nichts zu tun haben. Er will mutig und männlich sein, die Gefahr nicht scheuen, Gefühle kultivieren. Das erinnert an die romantische Sturm und Drang Attitüde, ins 21.Jahrhundert transponiert. Allerdings mit einem modernen Sound, der aggressiv-pointiert-boshaft die Lächerlichkeiten aufspießt, denen nicht nur der Autor, sondern wir alle auf der Straße, in den Geschäften, in den Netzen und den Bars, sofern wir letztere aufsuchen, Tag für Tag begegnen. Das Buch hat mich immer wieder zum Lachen gebracht. Der Sound ist das Beste daran. Alles andere halte ich für wenig geglückt: die ungeschickte Dramaturgie um die sieben "Totsünden", der Pakt mit dem Teufel, der nicht aufgeht – eine blasse Konstruktion, die dem Buch eher schadet als nützt. Also alles nur geschrieben, um Aufsehen zu erwirken? Ja und nein. Einerseits habe ich, ein eher alter Mann, das Buch des eher jungen Mannes mit Vergnügen gelesen. Andererseits ist das Ganze doch etwas zu aufgesetzt, nicht wirklich glaubwürdig,. Vielleicht hilft beim nächsten Buch die geübte Hand des Vaters.


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