Sachliteratur

Heute bevorzuge ich eher Sachbücher, weil sie Fakten bringen, Wissen mehren; zum Lernen und auch zur Vertiefung anregen können. Das populärwissenschaftliche Buch ist eine eigenständige Gruppe innerhalb der Sachbücher. Um es in vollen Zügen genießen zu können, ist meist eine gewisse Vorbildung erforderlich, zumindest aber hilfreich. Aus dem Tausende Meter hohen Stapel der Sachbücher habe ich sieben herausgegriffen, die es zu Lob und Ansehen gebracht haben: Wütendes Wetter von Friederike Otto, Risiko von Gerd Gigerenzer, John Horgans The End of Science oder 2052 von Jorgen Randers fallen in die populärwissenschaftliche Kategorie, während Richard von Schirach in Die Nacht der Physiker vorwiegend Informationen in einer dem Roman genehmen Sprache wiedergibt. Das gleiche gilt für das Buch Macht von Katja Kraus oder Harald Welzers Nachruf. Die Zuordnungen sind zugegebenermaßen immer etwas willkürlich, weil Elemente aus der einen oder anderen Kategorie zum Zuge kommen können (Meine Erzählung Die Verabredungen der fünf Doktorandinnen ist Roman und Sachbuch und populärwissenschaftlich zu etwa gleichen Teilen. Ein griffiger Name für diese exotische Art steht aus).


	
	

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst

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Was Herr Welzer sein und nicht sein möchte

Der Bestsellerautor und aktive Sozialwissenschaftler beklagt, unter anderem, die Unfähigkeit der Menschen, nicht aufhören zu können (oder zu wollen). Als ich das las, wollte ich mehr wissen. Ich hatte den Herrn Welzer als bedächtigen und eher widerständigen Menschen im Fernsehen erlebt.
Welzer möchte, dass die Endlichkeit des Lebens, der Tätigkeiten, der lebendigen und toten Materie, anerkannt und das Handeln und Streben danach ausgerichtet werden. Der Tod muss wieder als solcher stattfinden dürfen. Er plädiert für die Reduktion der Lebensweise, straft dessen unaufhörliche Expansion. Kritisiert die Wirtschaftsweisen, das Verlangen nach Vorhersage, die imperiale Lebensweise. Das alles ist bekanntlich fester Bestandteil im Ruf nach einem anderen, genügsameren Leben. Insofern könnte ich mich mit Welzer in ungefährer Übereinstimmung finden und seinem Bestseller-Buch ein weiteres Lob hinzufügen. Tu ich aber nicht. Und diese sind meine Gründe:
(1) Die ausführliche Darstellung seines Herzinfarktes, der sogar Aufnahme in Welzers WikiBiographie gefunden hat, hätte er ruhig für sich behalten können. Warum muss die Leserschaft davon erfahren? Weil es viele andere vorgemacht haben und ihre Krankheiten in Schriftform beschrieben haben? Um die Leserschaft vom Gedanken der Unsterblichkeit zu lösen?
(2) Die tristen, unscharfen, in Grau gehaltenen Abbildungen sind angesichts der heutigen Möglichkeiten der Bildwiedergabe sowie des stattlichen Preises für dieses Buch absolut inakzeptabel. Ganz zu schweigen vom EKG, in dem die schwach ausgeprägten RR-Zacken nur unter heller Beleuchtung zu erahnen sind.
(3) Die Bewunderung für Herrn R. Messner. Dieser gibt den Verzicht auf die Sauerstoffflasche beim Erklimmen des höchsten Berges als Reduktion an, dabei dürfte es sich ja wohl vor allem darum gehandelt haben, als Erster oben "ohne" (ohne Sauerstofflasche) gegangen zu sein – Ausdruck von Messmers bissigem Ehrgeiz und nie erlahmender, im Fernsehen wiederholt zur Schau gestellten Eitelkeit, Verhaltensweisen, die Welzer vermutlich auch bei sich ausgemacht hat, doch eigentlich (S.211) abstreifen möchte; aber dem Professorenstand, zu dem, glaube ich, auch er gehört, doch unwiderruflich und unauslöschlich zu eigen sind. Wofür auch der Buch-Cover steht. Welzer in Großaufnahme; ginge es nicht ein bisschen kleiner? So schön ist er doch gar nicht.
(4) Der übermäßige Gebrauch des Zitates, was eine gewisse Wissenschaftlichkeit des Werkes suggeriert. Nicht alle, die es lesen, haben die Sozialwissenschaften erlernt, so dass die Zitate kaum die Würdigung erfahren dürften, die Welzer in Sinn hatte. Oder war es die Sorge, des Plagiats überführt zu werden, wenn Fremdes nicht gebührend als solches bezeichnet wird?
Ein viele Seiten umfassendes Nachwort, gleichsam die Wiederholung dessen, was vorab auf zweihundert Seiten mitgeteilt wurde, beschließt den Nachruf auf mich selbst. Meine Neugierde war mehr als gestillt. Im Buch geht es darum, was Welzer sein möchte - vor allem ein guter Mensch. Irgendwie rührend.


Friederike Otto: Wütendes Wetter

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Friederike Ottos Umgang mit Wetter, das zu Wutausbrüchen neigt

Wird das Wetter – wütend, weil ihm stetig steigende Konzentration von Kohlenstoff in der Atmosphäre zugemutet wird? Oder ist es – ein Wüterich, der mit Menschen und Natur macht was es will? Oder – beides? Egal: die Autorin Dr. Friederike Otto braucht sich um derlei Spitzfindigkeiten nicht zu kümmern. Sie ist inzwischen zur Gewinnerin des Umweltpreises aufgerückt, außerdem laut Amazon die Nummer eins in der Sachbuch-Preisliste. Ich habe ihr Buch sogar in der Mediathek einer südwestdeutschen Kleinstadt gefunden. Heute habe ich erfahren, dass sie inzwischen ein zweites Buch geschrieben hat. Da ich mich einst mit ähnlichen Phänomene beschäftigt habe (siehe nach in Extreme Events in Nature and Society, Springer Verlag, 2005), werde ich an dieser Stelle eine recht umfangreiche Besprechung präsentieren.
Friederike Ottos Vermutungen lesen sich im Buch etwa so: Extreme Wetterereignisse, wie Starkregen, Überflutungen, Orkane, Taifune, Hurricans , Hitzewellen, als auch deren Gegenteil, wie Dürre, Flaute und Kältewellen werden durch zunehmenden Kohlenstoff in der Luft wahrscheinlicher. Doch nicht nur das. Die Ereignisse wiederholen sich in kürzeren Abständen, mit höherer Intensität und größerer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung.
Natürlich ließe sich auch das genaue Gegenteil vermuten. Extreme Ereignisse werden mit steigender Erd-Temperatur seltener, schwächer, kürzer. Für eine Vermutung dieser Art fehlen aber die Beweise. Sie ist auch weniger spektakulär und würde die Aufmerksamkeit in die falsche Richtung bewegen.
Bei der Vermutung bleibt es nicht. Friederike versucht, aus Vermutung Gewissheit zu machen. Sie behauptet nämlich, nachweisen zu können, dass ein großer Teil der von ihr untersuchten extremen Ereignisse durch die Klimaänderung hervorgerufen, zumindest aber maßgeblich beeinflusst wird. Deren Eintrittswahrscheinlichkeit könne sich in einem wärmeren Klima verdoppeln,verdreifachen oder verzehnfachen, je nachdem. Weil das von beträchtlicher Bedeutung sein dürfte und dem Anliegen, das fossile Zeitalter zu beenden, neuen Impetus verleihen würde, erklärt Friederike ihre Ergebnisse kurzerhand als Beitrag zu einem neuen Typ von Wissenschaft: es ist die Attributionswissenschaft (event attribution science).
Ist das die neue Wissenschaft? Lange bevor Friederike Ottos Publikationen den Büchermarkt bereicherten, waren Zeitungen, Klimaschützer und Wetterfrösche sich einig, dass extremes Wetter dem Klimawandel zugeschrieben werden muss. Man hatte Mutmaßungen zu Gewissheiten umgedeutet. Beweise gab es nicht...
Zusammenhänge zu finden ist immanenter Bestandteil jeder Wissenschaft. Im Zeitalter der Epidemiologie untersucht man z.B. die Assoziation von Lungenkrebs und Rauchen. Bekanntlich ist die Sterblichkeit wegen Lungenkrebs weitgehend auf das Rauchen zurückzuführen. Das attributive Risiko der Exponierten beträgt mehr als 90%. Allerdings ist eine Assoziation, auch wenn sie statistisch signifikant ist, nicht notwendig auch kausal.
In Wütendes Wetter wird an Hand mehrerer Beispiele erläutert, dass die Wetterfrösche Recht haben. Warum das so ist, habe ich aus dem Buch nicht erschließen können. Über die Methodik, die angewendet wurde, habe ich, wenn auch nicht ohne Mühe, folgendes herausgelesen.
Friederike arbeitet mit zwei Modell-Typen, ich nenne sie alt und neu. In neu steigt der Kohlenstoff-Eintrag, in alt ändert er sich nicht. Für die folgenden Schritte habe ich eine Art Rezept zusammengestellt: (1) Beschaffe Datensätze zu Extremereignissen. (2) Trimme die Klima-Modelle, so dass sie extreme Ereignisse erzeugen. (3) Mach daraus eine Extremwert-Statistik, indem die Start-Bedingungen der Modelle geändert werden, so dass mehrere Ereignisse generiert werden können - Grundlage für die Statistik. (4) Vergleiche die Eintrittswahrscheinlichkeiten der Ereignisse aus den beiden Modellen. (5) Gleiche das mit den empirischen Daten ab. (6) Freue dich, wenn das Modell neu mehr extreme Ereignisse simuliert als Modell alt; freue dich noch mehr, wenn diese in alt ausbleiben oder zum Beispiel weniger heftig oder zeitlich und räumlich begrenzter ausfallen.
Sollte das Rezept versagen, muss ich Wichtiges missverstanden haben.
Abgesehen von meiner vielleicht begrenzten Auffassungsgabe, könnte das auch daran liegen, dass im Wütenden Wetter viel durcheinander geht. Berichte über den Harvey-Wirbel (der mir unbekannt, Eingeweihten aber offenbar vertraut ist) wechseln mit Erläuterungen zum Klima; kurze Beschreibungen der benutzten Verfahren mit Arbeits-Ergebnissen; gelegentliche Rückschläge mit zahllosen Erfolgen. Hier hätte es gut getan, die Neugierde der Leserschaft zu stillen, indem Friederike die zahlreichen Gutachten veröffentlicht, die sie zu ihren Arbeiten erhalten haben soll. Das wäre ein Beitrag zur offenen Wissenschaft, die ja durchaus in ihrem Interesse zu liegen scheint; die im Übrigen dringend überfällig ist, angesichts der anonymisierten Begutachtungsverfahren, schiefen Berufungen, problematischen Verteilung der Forschungsgelder, unter vielem anderen mehr.
Mir fehlen eine übersichtliche Auflistung der untersuchten Ereignisse, deren Beschreibung und eine detaillierte Übersicht über die jeweiligen Ergebnisse. Friederike Otto hat viel Papier beschrieben, um sich selbst zu beschreiben. So ist ihr Buch für mich vor allem der Werdegang einer unbekannten Studentin hin zu einer vielgefragten und mit Preisen überhäuften Persönlichkeit und Forscherin. Die es den Männern zeigt: mit unerschütterlicher Selbstgewissheit, brennendem Ehrgeiz, gigantischem Arbeitspensum, herausragendem Kommunikationstalent in Lichtgeschwindigkeit nach den Sternen greifen. Raus aus dem Elfenbeinturm, hin zu sozialer Anteilnahme und leidenschaftlicher Anklage, wenn es darum geht, die Schuldigen an den Extremereignissen zu finden und sie ihrer "gerechten" Bestrafung zuzuführen.
Fazit: das Buch ist schlecht geschrieben. Es hätte angesichts Friederikes richtungsweisender Forschung eine konsistente Darstellung verdient. Aber es enthält interessante, diskussionswürdige Beispiele. Ferner ist es ein wichtiges Dokument, das zeigt, wie Frauen in der männlich dominierten Wissenschaft Bedeutung erlangen und Positionen erobern können. Friederike Otto ein Vorbild für Frauen, die in der Wissenschaft etwas werden wollen.
Allerdings: auch wenn im Buch einige Beispiele angeführt werden, die eine Erhöhung der Eintritts-Wahrscheinlichkeit extremer Wetterereignisse anzeigen, heißt das noch lange nicht, dass alle auffälligen Wetterereignisse samt und sonders durch die Klimaerwärmung erzeugt oder verstärkt werden. Um auch nur den Anschein der Voreingenommenheit in diesem heiklen Gebiet zu vermeiden, kommt es darauf an, jedes Ereignis nach den Regeln der Kunst zu untersuchen. Friederike Otto hat die Initiative ergriffen und gezeigt, wie das gehen könnte.


Katja Kraus: Macht

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Geständnis der Gestrauchelten

Der Autorin ist gelungen, wovon die Presse träumt: Prominente, die Bedeutung und Macht verloren haben, man könnte auch sagen, mehr oder weniger gescheitert sind, öffnen ihr Innerstes und erzählen über Erfolg und Misserfolg. Sie haben sich der Richtigen anvertraut haben. Die Ergebnisse der Gespräche enthüllen nichts Neues, enthalten keine Überraschungen, am Ende des Buches wissen wir immer noch nicht, ob Engholm seinen einstigen Feind Barschel umgebracht hat oder ob dieser selbst Hand an sich gelegt hat. Aber sie haben zutage gefördert, was vielleicht nicht so bekannt war: die Gestrauchelten bleiben ein Leben lang Ministerpräsident, Chefredakteur, die bessere Bundespräsidentin, wie Helmut Schmidt Zeit seines Lebens Bundeskanzler geblieben ist. Alle glauben sie kurioserweise und unverrückbar an ihre besondere Bedeutung, mit einer Ausnahme vielleicht: Andrea Ypsilanti. Folglich ist sie mir die Sympathischste in dieser Reihe von (nicht sonderlich sympathischen) Prominenten. Was mich aber besonders angesprochen hat, ist die Art und Weise, wie Frau Kraus die Verlautbarungen der diversen Personen zusammenfasst, vergleicht und interpretiert. Das ist hohe Kunst!
Ich habe auch das Vorwort zu diesem Buch gelesen. Darin wird mit wenigen Worten verraten, was im Hauptteil mit vielen Worten übermittelt wird. Dabei bleibt einiges im Dunkeln. Beispiele? Hier sind sie: "die Zuschreibung von außen jedoch kennt keine Schnörkel und Interpretationsformen. Macht ist eindeutig." Oder was ist "Wesensgrundierung?" Oder: "Es ist dasselbe Spektrum, das die großen mit den kleinen Karrieren vergleichbar macht." Hier bekommt das Wort Spektrum eine andere, aber welche Bedeutung? Manche Sätze sind so geschwollen konstruiert, dass ich noch heute daran rätsele. Und das umfasst einen Zeitraum von vielen Jahren.
Glücklicherweise wird dadurch die Bedeutung des Buches nicht merklich geschmälert. Es ist ein sehr gutes, lesenswertes und wichtiges Buch. Und davon gibt es, wie wir alle wissen, nicht viele.


Gerd Gigerenzer: Risiko

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Das Problem mit der Ungewissheit

In Kapitel 9 des Buchs kommt, was Ärzte wissen müssen. Es geht um die richtige Bewertung von medizinischen Testergebnissen und den Nutzen von Vorsorge. Bekanntlich ist das Ergebnis eines Test eine der vier Möglichkeiten, die als falsch positiv bzw. negativ und richtig positiv bzw. negativ (Seite 221 oder 225) bezeichnet werden. Die Wahrscheinlichkeit p, tatsächlich krank zu sein, wenn positiv getestet wurde, hängt von mehreren Faktoren ab. Der wichtigste Faktor ist die Prävalenz (Anzahl der Erkrankungen pro Bevölkerung). Dieser ist in etwa proportional zu p, das heißt, je höher die Prävalenz, desto sicherer ist das Testergebnis. Unter der Voraussetzung geringer Prävalenz, hoher Sensitivität und vergleichsweise niedriger Zahl an falsch positiven Ergebnissen errechnet sich die Wahrscheinlichkeit, krank zu sein, unter der Voraussetzung, dass der Test beim Patienten positiv ausfiel, nach folgender Faustformel: p(krank|positiv) = Prävalenz*Sensitivität/falsch-positive Rate. Aber Vorsicht: Es handelt sich um Wahrscheinlichkeiten. Der individuelle Fall mag ganz anders liegen, durchaus auch in den Bereich des Unwahrscheinlichen fallen: trotz hoher Testwahrscheinlichkeit auf krank bist du de facto gesund! Folglich ist die Rechnerei keine Entscheidung, nur eine Entscheidungshilfe, ob weitere Maßnahmen (Röntgen, Eingriff, etc.) bei positivem Befund zugestimmt werden soll. Das betont GG an mehreren Stellen.
GG konstatiert große Ahnungslosigkeit vieler Ärzte, wenn es um die Interpretationen von Testergebnissen geht. Die Bedeutung von Wahrscheinlichkeit ist den meisten kaum geläufig. Das bestätigt meine eigenen Erfahrungen. Ob GG, wie von ihm selbst behauptet, tatsächlich der erste ist, der das herausgefunden hat, würde mich aber wundern, angesichts der Tatasche, dass es seit ewigen Zeiten Ärzte gibt und seit hundert Jahren Teste und Testergebnisse, die gedeutet werden müssen.
Ausführlich diskutiert GG das Problem der Risiko- Falle. Man fürchtet sich, zum Beispiel, vor dem Angriff eines Hais, aber ist ganz unbesorgt, tausend Kilometer im Auto zu fahren. Doch das Risiko, einen Autounfall zu erleiden, ist um Zehnerpotenzen größer als beim Baden vom Hai attackiert zu werden. Das Beispiel hinkt wie jedes, das von falschen Voraussetzungen ausgeht. Wenn Mann in einem Bassin badet, das von Haien wimmelt, sollte er lieber die lange Autofahrt auf sich nehmen.
GG vermittelt, dass in jeder Entscheidung das Risiko lauert, unter den vielen Möglichkeiten, die existieren, sich für die falsche zu entscheiden. Zu früh geheiratet, den unpassenden Beruf, den inkompetenten Arzt gewählt...Was tun? Hier kommt GGs Bauchgefühl zur Anwendung. Dabei handelt es sich um Intuition, laut GG Ausdruck einer unbewussten Intelligenz. Bildung, viel Erfahrung, Unvoreingenommenheit und Verstand sind vonnöten, um Bauchgefühl zu entwickeln, eine Art von Risiko-Kompetenz zu erwerben. Ob es hilft beim nächsten Angriff eines Hais?
Wann Entscheidungen vom Bauch her oder mittels Informationen gefällt werden, hängt von den Umständen ab. Wenn Informationen vorhanden sind, würde ich diese verwenden, um meine Entscheidung zu finden; die Intuition, wenn solche nicht verfügbar sind.
Wie Wahrscheinlichkeiten verstehen, wie mit ihnen umgehen? Dazu gibt GG gleich zu Anfang des Buchs Hilfestellung: Was bedeutet es, zum Beispiel, wenn der Wetterbericht eine dreißig Prozentige Regenwahrscheinlichkeit vorhersagt? GGs Interpretation halte ich nicht für erhellend. Wie ist es mit dieser: Die Wetterfrösche starten ihre Simulationen mit jeweils unterschiedlichen Ausgangsdaten, die die Unsicherheit der Messdaten wiedergeben. Sie erhalten dann verschiedene Resultate für den jeweiligen Vorhersagezeitraum: in drei von zehn Fällen signalisieren die Simulationen das Ereignis "Regen". Anders ausgedrückt: die geschätzte Wahrscheinlichkeit beträgt 30%, dass es in den nächsten Stunden, am nächsten Tag usw. regnet. Alles in allem ist Risiko ein wichtiges Buch, das ich vor allem Ärzten und Ärztinnen, gleich welcher Fachrichtung, sowie allen anderen wärmstens empfehle, die Ängste quälen, die richtige Entscheidung zu treffen.


John Horgan: The end of science

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Sind die Naturwissenschaften am Ende ihrer Entdeckungsreise?

John Horgan, einer der bedeutendsten Wissenschaftsjournalisten, hat es mit dem "Ende". In seinem Buch "The end of war" geht es um die Beendigung jedweder militärischer Aktion, und im vorliegenden "The end of science" beschäftigt er sich mit der Frage, ob die Wissenschaft, genauer gesagt, die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, ihr Pulver verschossen hat. Sind die wesentlichen Fragestellungen in der Physik, Biologie, Neurowissenschaft u.a., geklärt? Können die noch offenen Probleme, wie Entstehung des Weltalls, des Lebens, oder die Mechanismen, die Bewusstsein, Gefühle, Entscheidung, Wille, Erinnerung erzeugen und steuern, überhaupt je beantwortet werden? Horgans Buch beginnt mit "Ich" und endet mit "Ich". Dazwischen liest man auf knapp 300 Seiten seine aufschlussreichen, durchaus amüsanten Interviews mit vielen hochkarätigen, vorwiegend amerikanischen Wissenschaftlern und eingestreut, seine (wohltuend) respektlosen Ansichten zu den Aussagen der Befragten und den Befragten selbst. Sein Fazit: die Naturwissenschaft ist das größte schlechthin, sie hat das Potential, viele Probleme der Welt zu lösen, aber es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass sie ihren Zenit bereits überschritten hat, in Zukunft mehr noch als bisher schon, Bekanntes verfeinern und ausarbeiten wird, aber die Jahrtausende alten Fragen nach der Entstehung und Entwicklung des Menschen und des Weltalls, unter anderen, nicht wird klären können.
Aber muss sie das? Mir würde es genügen, wenn die vermeintlich reine Wissenschaft auch nützlich wäre. Wenn das Ziel nicht nur die Erkenntnis wäre, sondern gleichberechtigt die Absicht verfolgen würde, das Leben der Menschheit zu erleichtern. Das hat sie übrigens (unfreiwillig oder freiwillig) schon immer getan, dank einer Industrie, die die Erkenntnisse der Grundlagenforschung verwertet und damit nahezu alle gesellschaftliche Bereiche revolutioniert, z.T. auch automatisiert hat. Aber viele praktische Probleme sind noch offen, und auch hier stellt sich - wie in der Grundlagenforschung - die Frage, ob das Ende echter Innovationen bevorsteht. Dieser Eindruck drängt sich auf, wenn große Lösungen für Medizin, Umwelt, Wirtschaft und Energie versprochen werden, und diese seit Jahren auf sich warten lassen. Daran dürfte auch die mit viel Vorschusslorbeer umhängte Künstliche Intelligenz kaum etwas ändern.
Die Lektüre von Horgans Buch erfordert ein gewisses Verständnis der neueren Physik, Biologie und Computerwissenschaften; dieses vorausgesetzt, ist es leicht und äußerst gewinnbringend zu lesen.


Jorgen Randers: 2052

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Wie die Welt von morgen aussehen könnte

Vierzig Jahre globale Entwicklung vorauszusagen, ist riskant. Weil die Dynamik der relevanten Größen, wie zum Beispiel Bevölkerung, Arbeit, Energieverbrauch, Nahrungsmittelproduktion etc. nicht in Gleichungen festgeschrieben ist. Selbst wenn sie es wäre, würde ein konsistentes globales Modell, das die Änderungen von Ökologie und Klima einkoppelt, mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Mitteln kaum realisierbar sein. Will man dennoch diese Größen in die Zukunft fortschreiben, ist man auf Mutmaßungen angewiesen; zwar gibt es Zeitreihen (fehlerbehaftet und lückenhaft), aber das Problem ist auch hier, sie in die Zukunft zu verlängern. Es ist diese Kritik, die den Autoren des viel zitierten "Limit of Growth" schon 1972 entgegen gebracht worden ist.
Dennoch. Damals wurde eine hitzige, ich glaube sogar fruchtbare Debatte angestoßen, und auch heute ist Randers Neuauflage alles andere als irrelevant: weil im Buch treffend die Probleme beschrieben werden, mit denen die Erdbevölkerung jetzt und in Zukunft konfrontiert sind. Es sind die "Glimpses", die mir gefallen. Für diese hat der Autor zweifellos kompetente Leute gewonnen. Und er hat viel Literatur zum Weiterlesen gelistet.
Andererseits suggeriert Randers, harte, verifizierbare Vorhersagen generiert zu haben. Das ist nicht der Fall. Die Ergebnisse sind eher eine Form von Plausibilitätsbetrachtungen, Schätzungen für die fünf Regionen, in die er die Erde unterteilt, basierend auf einer Menge historischer Daten und einigen (verborgenen) Annahmen über deren Zusammenhang. So richtig "wissenschaftlich" ist das nicht. Und es ist nicht einmal sicher, ob die vom Autor identifizierten "main drivers" vollständig sind. Ob andere, wie etwa die weitere Zunahme der Urbanisierung und die zu erwartende massenhafte Migration aus den Gebieten, wo Hunger, Krankheit, Wetterextreme und Krieg herrschen, nicht stärker gewichtet werden müssten.
Gleichwohl, wer sich über die brennenden Fragen der Zeit orientieren will, und dabei die Meinung von Experten aus den verschiedenen Wissensgebieten dankbar zu Hilfe nimmt, wer darüber hinaus auch eine Vorstellung vermittelt bekommen möchte, wie sich die Dinge in der ferneren Zukunft entwickeln können, ist mit diesem Buch sicher gut beraten.
Wer außerdem noch wissen möchte, was zu tun ist, damit Randers eher pessimistische Ankündigungen nicht eintreten, bekommt auf dreißig Seiten Text eine Reihe Anregungen, deren Realisierung die Leser für den Rest ihres Lebens beschäftigen werden. Wer allerdings erwartet, ein wissenschaftlich solides Weltmodell präsentiert zu bekommen, das nach Form und Inhalt ähnlichen Ansprüchen wie die aktuellen Klimamodelle genügt, der muss noch warten. Zumindest etwas hat sich aber auch in dieser Richtung schon getan. Die Verknüpfung von Ökonomie und Klima in Form mathematischer Modelle ist in Angriff genommen; weitere Forschung dazu wird von der EU gefördert.


Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker

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Ehrgeiz versus Moral

Ein Buch, das über die Verstrickungen deutscher Wissenschaftler in den beiden Weltkriegen Zeugnis ablegt. Die nach dem Exodus der jüdischen Wissenschaftler übrig gebliebenen deutschen Physiker und Chemiker scheiterten, wie bekannt, am Bau der Bombe. Wenn auch mit den Grundlagen der Kernspaltung vertraut, zum Teil von ihnen selbst entdeckt und entschlüsselt, waren sie nicht in der Lage, das Projekt wissenschaftlich wie technologisch zu realisieren. Was wäre aus der Menschheit geworden, wenn ihnen der Bau der Bombe gelungen wäre?
Von der Bombe und den daran beteiligten Wissenschaftlern erzählt Richard von Schirach, Bruder von Ferdinand, der sich seit geraumer Zeit mit fiktionalen Erzählungen aus seiner Welt von Urteil und Verbrechen Ansehen erworben hat. Richard berichtet glaubwürdig, unter Nennung der Quellen, auch über den Chemiewaffeneinsatz des ersten Weltkriegs. Da sehen selbst Hahn und Franck, beide Nobelpreisträger, unter anderen, gar nicht mehr so gut aus, wie das die offizielle rachregelung hat Glauben machen wollen. Ein Verdienst des Buches, vor solchen Offenlegungen nicht zurückzuscheuen.
Wer wollte es den Forschern verdenken. Der Forscher ist einer der Ehrgeizigsten weit und breit; er will der erste sein, der den Mechanismus versteht, das Gerät bauen kann. Dem ersten gebührt der Ruhm, und der ist ihm wichtiger als die Moral. Dann kann es auch eine Bombe sein, insbesondere, wenn diese den Krieg vorzeitig beenden hilft. So argumentierte die eine wie die andere Seite. Und so kam es zum Abwurf der Bombe über Hiroshima und Nagasaki.
Sicher ist vieles längst bekannt, aber der Autor hat durch seine Auswahl des umfangreichen Materials das eine oder andere in etwas anderem Licht erscheinen lassen. Ich war erstaunt, dass Professor Erich Bagge dem Team von Heisenberg und Co angehörte. Bagge war in der Bundesrepublik einer der prominenten Verfechter der Kernenergie und somit beliebte Zielscheibe der Anti-AKW-Bewegung. Er war schon emeritiert, aber immer noch aktiv und sehr einflussreich, als ich an sein Institut in der Uni Kiel kam. Ein wissenschaftlich wie körperlich raumfüllender Mann. Jedenfalls fand ich ihn nicht unsympathisch, aber habe erst aus Schirachs Buch über seine Vergangenheit erfahren.
Die Fotos im Buch sind hilfreich, es hätten sogar mehr sein können. Ein Buch, das zu lesen sich lohnt, auch wenn der Preis etwas zu üppig erscheint.


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